„It’s All About Negotiating the Unknown“ (Wayne Shorter) – Musik als Spiegel der europäischen Gesellschaft

Ein Artikel, der die Tragweite der Projekte beleuchtet. Neben dem Spaß, der das gemeinsame Musizieren bringt, gibt es Aspekte, die ich gerne darlegen möchte

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Sebastian Netta

10/9/20244 min read

Wayne Shorter sagte einst: „It’s all about negotiating the unknown.“ (Es geht darum, das Unbekannte zu verhandeln.) Dieser einfache, aber tiefgründige Satz beschreibt nicht nur den Jazz, sondern auch eine Lebensphilosophie, die den Kern des kreativen Prozesses trifft. Besonders in Projekten wie meinem, Jazz-Jumelage, wo ich immer wieder Musiker zusammenbringe, die sich nicht kennen und auf unbekanntes Terrain begeben, hat dieser Gedanke eine besondere Bedeutung. Jedes Mal, wenn wir uns als Gruppe versammeln, betreten wir ein unkartiertes Land – einen Raum, in dem nichts vorgezeichnet ist und alles passieren kann.

Dieses Unbekannte in der Musik ist nicht nur ein künstlerisches Phänomen, sondern auch ein Spiegel der komplexen, multikulturellen Realität Europas. In der europäischen Gesellschaft, die so viele Kulturen, Sprachen und Traditionen vereint, steht das Unbekannte im Mittelpunkt. Doch wo im sozialen Leben oft Missverständnisse oder Konflikte entstehen, bietet die Musik einen Weg zur Kooperation. Denn ohne Zusammenarbeit, ohne das Bemühen um Harmonie, entsteht in der Musik – genauso wie in der Gesellschaft – Missklang.

Der Wille zur Kooperation

Im Rahmen von Jazz-Jumelage ist die Zusammenarbeit nicht nur wünschenswert, sondern unverzichtbar. Ohne sie zerfällt die Musik. Das spiegelt die Dynamik der europäischen Gesellschaft wider, in der unterschiedliche Gruppen lernen müssen, trotz ihrer Unterschiede zusammenzuarbeiten. Europas komplexe Geschichte, geprägt von Migration, politischen Veränderungen und kulturellen Verflechtungen, findet ihren Widerhall im Zusammenspiel von Musikern, die zunächst keine gemeinsame Vergangenheit haben.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Willen zur Kooperation. Wenn ich Musiker in ein Projekt hole, in dem sie einander nicht kennen, ist ihre Bereitschaft, sich auf fremde Klänge und Ansätze einzulassen, der einzige Weg, um von der anfänglichen Dissonanz zur Harmonie zu finden. Das gilt ebenso für die gesellschaftlichen Herausforderungen Europas: Ohne Kooperation gibt es Trennung, Missverständnisse und letztlich Chaos. In der Musik wie in der Gesellschaft kann Harmonie nur entstehen, wenn alle Beteiligten den Willen haben, zuzuhören, sich anzupassen und einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.

Das Unbekannte als Spiegel der Gesellschaft

Das Unbekannte, dem wir in musikalischen Projekten begegnen, ist nicht anders als das gesellschaftliche Unbekannte, dem sich Europa ständig stellt. In einer Welt, in der Kulturen ständig im Wandel sind, Menschen Grenzen überschreiten und Identitäten immer vielfältiger werden, ist die Vorstellung einer homogenen Kultur überholt. Stattdessen erleben wir – sowohl in der Musik als auch im Leben – ein Mosaik aus Einflüssen, das jede Begegnung bereichert.

In Jazz-Jumelage bringe ich Musiker zusammen, die oft aus verschiedenen Ländern oder musikalischen Traditionen stammen. Was in diesen Momenten passiert, ist mehr als nur die Entstehung von Musik. Es ist ein Mikrokosmos der europäischen Realität, in dem Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen lernen, miteinander umzugehen und gemeinsame Lösungen zu finden. Die Herausforderung liegt darin, dass ohne gegenseitiges Verständnis nicht nur musikalische Disharmonie entsteht, sondern auch eine tiefere Art von Missverständnis, sowohl in der Musik als auch in der Gesellschaft.

Doch wenn wir es schaffen, uns zu einigen und einen gemeinsamen Klang zu finden, entsteht etwas Magisches. Die Musik wird zu einer universellen Sprache, die kulturelle und persönliche Unterschiede überwindet. In diesem Sinne ist Jazz-Jumelage nicht nur ein musikalisches Projekt – es verkörpert den Geist der europäischen Zusammenarbeit, in dem Einheit nicht in der Gleichheit, sondern in der Fähigkeit liegt, Vielfalt zu navigieren.

Harmonie vs. Dissonanz: Eine Lektion für die Gesellschaft

Die Herausforderung, Musiker zusammenzubringen, die sich nicht kennen, ist der Herausforderung ähnlich, in einer multikulturellen Gesellschaft Zusammenarbeit zu fördern. In beiden Fällen besteht immer die Gefahr der Disharmonie. Wenn jeder Musiker nur für sich selbst spielt, ohne Rücksicht auf die anderen, wird das Ergebnis chaotisch. Dasselbe gilt für die Gesellschaft: Wenn Individuen oder Gruppen sich weigern, sich aufeinander einzulassen und ihre eigenen Interessen über das Gemeinwohl stellen, ist die Dissonanz vorprogrammiert.

Aber in Jazz-Jumelage zeigen wir, dass es anders gehen kann. Indem wir bewusst zuhören, Raum für den anderen schaffen und dem Prozess vertrauen, gelingt es uns, Harmonie zu erzeugen. Diese Prinzipien gelten auch für die Gesellschaft. In einem vielfältigen und manchmal gespaltenen Europa müssen wir alle lernen, das Unbekannte zu verhandeln – Wege zu finden, wie wir trotz unserer Unterschiede zusammenleben und zusammenarbeiten können.

Musik als Weg zum Verständnis

Musik bietet eine einzigartige Perspektive auf diese Herausforderungen. Wenn Musiker unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen, bringen sie nicht nur ihre technischen Fähigkeiten mit, sondern auch ihre persönlichen Geschichten, ihre kulturellen Identitäten und ihre emotionalen Erfahrungen. Das gemeinsame Musizieren erfordert, dass sie all diese Aspekte ihres Selbst auf eine offene und verletzliche Weise teilen. Es verlangt von ihnen, dass sie einander vertrauen, selbst wenn das Ergebnis ungewiss ist.

Genau deshalb kann Musik als kraftvolle Metapher für gesellschaftliche Zusammenarbeit dienen. Um etwas Schönes zu erschaffen, müssen wir das Unbekannte annehmen und gemeinsam durch es hindurcharbeiten. Wir müssen bereit sein, die Räume zu verhandeln, in denen wir uns nicht völlig verstehen – in dem Wissen, dass gerade durch diesen Prozess etwas Größeres entstehen kann.

In Jazz-Jumelage ist die Musik, die wir erschaffen, das Ergebnis dieses Bemühens. Sie ist das Ergebnis von Musikern, die nicht davor zurückschrecken, sich auf das Unbekannte einzulassen, die bereit sind, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie nicht verstehen – und die letztlich einen gemeinsamen Klang finden, den keiner von uns alleine hätte erahnen können.

Das Unbekannte als Akt der Hoffnung

Wayne Shorters Idee, das „Unbekannte zu verhandeln“, gewinnt noch mehr Bedeutung, wenn wir sie im Kontext der europäischen Gesellschaft betrachten. In einer Welt, die oft zersplittert und geteilt wirkt, ist die Bereitschaft, sich auf das Unbekannte einzulassen – sei es in der Musik oder im Leben – ein Akt der Hoffnung. Es ist der Glaube daran, dass wir durch Kooperation, durch Zuhören und durch Offenheit Wege finden können, Harmonie zu schaffen, wo sonst Disharmonie herrschen würde.

In Jazz-Jumelage leben wir diese Realität jeden Tag. Musiker kommen zusammen, ohne einen klaren Plan, ohne das Wohlfühlmoment der Vertrautheit – und doch gelingt es uns, durch Vertrauen und Kooperation etwas Neues zu schaffen. Die Musik wird zum Spiegel der Gesellschaft: vielfältig, komplex und voller Potenzial für sowohl Schönheit als auch Unordnung. Aber mit dem Willen zur Zusammenarbeit können wir sicherstellen, dass das Ergebnis keine Kakophonie, sondern Harmonie ist.

Das Unbekannte wird immer Teil des kreativen Prozesses bleiben, so wie es immer Teil der Gesellschaft sein wird. Doch indem wir es annehmen, indem wir es mit Offenheit und einem Geist der Zusammenarbeit verhandeln, können wir das Ungewisse in etwas Außergewöhnliches verwandeln. Wie in der Musik, wo die größten Momente oft aus dem Unerwarteten entstehen, so entstehen in der Gesellschaft die größten Errungenschaften aus der Bereitschaft, durch unsere Unterschiede hindurch gemeinsam etwas Neues zu schaffen.

Foto: Robert Ashcroft Courtesy of the artist